Das Konzept der ›unzuverlässigen Erzählerin‹

Schreiben? Ja. Aber wie?
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Hanna
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Das Konzept der ›unzuverlässigen Erzählerin‹

Beitrag von Hanna »

Als ich bei Ankündigung des LLP so darüber nachdachte, was ich schreiben könnte, fiel mir ein, dass ich damals im Forum ja eigentlich eine Fortsetzung von Du bist die Welt für mich schreiben wollte, mit der bösen Franzi, der bösen Zwillingsschwester der „guten“ Veronika aus dem Roman. Die Zwillinge sind dann zwar im endgültigen Buch Öffne dein Herz noch vorgekommen, hatten aber keine wirklich zentrale Rolle mehr, weil die ja dann von Jana und Melanie übernommen wurde. Es war auch in keiner Weise eine Fortsetzung, sondern eine völlig neue Geschichte.

Die Ausschnitte mit der „bösen Franzi“, die ich damals im Brainstorming eingestellt hatte, habe ich aber immer noch. Und sie gefallen mir immer noch. 😁 Da stellt sich nun die Frage: Kann das überhaupt für el!es in Frage kommen, wenn die Protagonistin böse ist? Und das auch bis zum Schluss bleibt? Denn ich denke, das muss so sein.

Du wolltest ja immer, dass die Protagonistinnen der el!es-Bücher sympathisch sind, Ruth. Deshalb weiß ich jetzt nicht, ob es sich dann überhaupt lohnt, ein solches Buch zu schreiben. Franzi wäre vielleicht auf ihre Art schon sympathisch, aber sie wäre eben auch immer nur auf ihren eigenen Vorteil aus und geht dafür auch über Leichen. Nicht direkt im wahrsten Sinne des Wortes, ich würde keine Mörderin aus ihr machen wollen, aber doch beispielsweise bezüglich ihrer Liebhaberinnen oder bezüglich von Leuten, von denen sie sich etwas verspricht. Sie nutzt andere aus und wirft sie dann weg, wenn sie hat, was sie wollte. Sie ist absolut kein Gutmensch.

Ich würde mich gern der Herausforderung stellen, ob man eine Hauptfigur trotz dieser Eigenschaften so gestalten kann, dass die Leserinnen das Buch nicht gleich in die Ecke feuern, wenn sie das merken. Kann eine „böse“ Figur sympathisch sein? Kann man mit ihr mitfiebern und hoffen, dass sie gewinnt, obwohl sie anderen meistens nur schadet? Sind die Figuren, die charakterlich eher „gut“ sind, dann nicht irgendwie lächerlich? Oder werden sie dadurch vielleicht unsympathisch?

Ich bin da jetzt etwas hin- und hergerissen. Eigentlich würde es mich sehr reizen, einmal „gegen den Strom“ zu schreiben. Gegen den el!es-Strom jedenfalls, denn unsympathische und böse Hauptfiguren gibt es ja in anderen als den el!es-Romanen viele. In den so beliebten Thrillern zum Beispiel. Viele Leute scheinen das zu mögen, sonst würden diese Bücher ja nicht gekauft.

Aber ich bin keine Thriller-Autorin. Ich glaube nicht, dass ich das hinkriegen würde. Und es würde mir auch keinen Spaß machen, so etwas zu schreiben. Ich möchte jedoch einmal eine Figur erschaffen, die Entscheidungen mehr nach dem Kriterium trifft, ob es ihr etwas nützt als ob es anderen schadet. Sie denkt in erster Linie an sich selbst, kann und will sich nicht in andere hineinversetzen und fühlt deshalb auch nicht mit ihnen mit, wenn sie dann unter ihr leiden. Sie kann das gar nicht verstehen.

Dennoch muss sie etwas Anziehendes haben, damit man ihr durch die ganze Geschichte folgt. Was ich jetzt, wo ich das so hinschreibe, sehr schwierig finde und deshalb doch einige Zweifel in mir weckt, ob ich das überhaupt schaffen kann. Aber ich würde es trotzdem gern versuchen.

Wenn es eine Chance gibt, dass ein solches Buch dann von el!es veröffentlicht wird.
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Ruth
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Re: Das Konzept der ›unzuverlässigen Erzählerin‹

Beitrag von Ruth »

Oh, Hanna, da stellst Du mich jetzt aber vor ein Problem. 🙂 Grundsätzlich haben mir die Sachen mit Deiner bösen Franzi schon gut gefallen. Ich mochte Franzi schon in Du bist die Welt für mich als Figur. Sie hat Spannung in die Geschichte gebracht. Vor allem auch als Gegenpol zu der doch sehr gutmenschigen Veronika. So einen Gegenpol müsste es dann jedoch auch in einer Geschichte mit Franzi als Hauptfigur geben. Und diese Figur müsste dann zum Schluss verlieren. Das ist natürlich nicht so ganz das, was ich mir in einem el!es-Buch wünsche.

Auf der anderen Seite verstehe ich gut, dass Dich das reizt. In gewisser Weise würde mich das auch reizen. Als Schriftstellerin. Man muss ja auch immer mal wieder etwas Neues ausprobieren. Aber da jetzt eine Entscheidung zu fällen . . . Da müsste man fast die Leserinnen fragen, ob sie so etwas überhaupt lesen wollen.

Das überaus Reizvolle daran ist, dass böse Figuren immer interessanter sind als gute Figuren. Vor allem, wenn eine Figur nicht nur böse ist, sondern auch mal plötzliche Einfälle von Gutmütigkeit hat. Dadurch wird die Figur dann unberechenbar, und das trägt oft sehr zur Spannung bei. Weil man nie genau weiß, wie die Figur dann in einer bestimmten Situation reagiert. Es ist aber auch gar nicht so einfach, dann in der ganzen Geschichte die Balance zu halten. Ein ziemlicher Drahtseilakt, und beim Schreiben sicherlich auch ziemlich anstrengend.

Was mir aber bei dem Thema so einfällt, ist der unzuverlässige Erzähler. Wenn Du Franzi zu einer unzuverlässigen Erzählerin machen würdest, vielleicht das ganze Buch sogar aus der Ich-Perspektive schreiben würdest, dann könntest Du mit der Wahrheit spielen. Wir würden nur erfahren, was Franzi für die Wahrheit hält – oder wovon sie will, dass andere es für die Wahrheit halten –, aber nicht unbedingt, was die Wahrheit ist. Das wissen wir aber nicht, weil wir Franzi glauben. Weil sie das so glaubwürdig erzählt, dass wir gar nicht auf den Gedanken kommen, es könnte nicht die Wahrheit sein.

Normalerweise geht man als Leserin ja davon aus, dass der Erzähler oder die Erzählerin die Wahrheit sagt. Also wenn eine Figur sagt „Es ist Nacht und es ist dunkel“, glauben wir das. Wenn es aber tatsächlich helllichter Tag ist, und die Erzählerin nur behauptet, es ist Nacht, um irgendeine Wirkung zu erzielen, dann ist die Erzählerin unzuverlässig, sie sagt nicht die Wahrheit.

Das ist allerdings nicht so ganz einfach handwerklich, denn die Geschichte muss ja dann zum Schluss auch stimmen, wenn sich herausstellt, was wirklich die Wahrheit ist. Also wenn Du den Plot entwickelst, schreibst Du hin, es ist Tag. Du musst als Autorin wissen, dass Tag ist. Im Buch musst Du dann aber schreiben, es ist Nacht. Und das muss die Leserin auch überzeugen. Das heißt, die subjektive Wahrheit, die Du in der Geschichte vermittelst, weicht von der objektiven Wahrheit ab. Du musst da aber immer den Überblick behalten und darfst nicht wirklich so schreiben, dass es zur Wahrheit wird. Nicht einfach, wie gesagt.

Aber so könnte es funktionieren. Wie in der kurzen Anfangsszene, die Du damals im Forum eingestellt hattest. Als Franzi Nicky glaubhaft versichert, dass Veronika die Böse ist, nicht Franzi selbst. Dass sie Franzi die Frau weggenommen hat, nämlich Jutta. Während es ja in Wirklichkeit umgekehrt war und Franzi mit Hilfe ihrer Zwillingsähnlichkeit Jutta verführt hatte, indem sie ihr vorgespielt hatte, sie wäre Veronika. Also meinte Jutta, sie hätte mit Veronika geschlafen, bis sich dann herausstellte, dass sie mit Franzi geschlafen hat. Obwohl sie das gar nicht wollte.

Aber Veronika war trotzdem tief verletzt. Und Jutta zutiefst unglücklich. Beide waren getrennt. Veronika konnte Jutta nicht mehr vertrauen, und Jutta hat sich furchtbar geschämt. Was Franzi dann diebisch gefreut hat, denn das war es ja, was sie erreichen wollte. Eigentlich wollte sie zwar Jutta für sich gewinnen, aber wahrscheinlich hat sie selbst nicht daran geglaubt, dass das gelingen könnte. Weshalb sie sich ja für Veronika ausgegeben hat.

In so einer kurzen Szene ist das ganz gut machbar, aber das in einem ganzen Buch aufrechtzuerhalten ist doch ziemlich schwierig. Eines der besten Beispiele von unzuverlässigem Erzählen, das mich damals schwer beeindruckt hat, war die Kurzgeschichte Die gelbe Tapete von Charlotte Perkins Gilman. Darin erzählt eine Frau von ihrer Situation als Gefangene. Sie wird gegen ihren Willen in einem Zimmer festgehalten, manchmal sogar ans Bett gebunden oder angekettet, damit sie nicht fliehen kann. Es kommen immer wieder Leute, die sie nur quälen wollen, und sie überlegt immer wieder fieberhaft, wie sie diese Leute überlisten kann.

Man leidet mit ihr mit und fragt sich, womit sie all diese Qualen verdient hat, warum sie überhaupt eingesperrt ist, aber zum Schluss stellt sich dann heraus, dass das alles nur Einbildung ist. In Wirklichkeit ist sie krank, und die Leute quälen sie nicht, sondern pflegen sie, wollen ihr nur Gutes. Aber in ihrer eigenen Wahrnehmung ist das ganz anders. Sie ist wahnsinnig, aber bis wir das erfahren, glauben wir ihr und wollen, dass sie sich befreit, dass sie diesem furchtbaren Gefängnis entkommt.

Sie ist eine unzuverlässige Erzählerin par excellence, weil sie so glaubwürdig ist. Die Autorin hat das so gut hinbekommen, dass man es dann kaum glauben kann, als sich am Schluss herausstellt, dass das, was die Protagonistin uns erzählt hat, gar nicht wahr ist. Man ist dann so verunsichert, dass man gar nicht mehr so recht weiß, was man glauben soll. Das ist wirklich hohe schriftstellerische Kunst.

So ein Buch würde ich jederzeit veröffentlichen, dessen kannst Du sicher sein. 😊
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Hanna
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Re: Das Konzept der ›unzuverlässigen Erzählerin‹

Beitrag von Hanna »

Deine letzte Aussage macht mir natürlich schon Mut, Ruth. 🙂 Eine unzuverlässige Erzählerin. Interessant. Ehrlich gesagt wusste ich gar nicht, dass es so etwas gibt. Es würde aber gut zu Franzi passen, das stimmt. Möglicherweise ist Franzi tatsächlich so. Sie glaubt ihre eigenen Lügen. Weil sie für sie die Wahrheit sind. Oder soll sie andere Leute bewusst hinters Licht führen, obwohl sie weiß, dass sie lügt? Das ist mir jetzt noch nicht so ganz klar.

Dann kann es allerdings keine Liebesgeschichte sein. Denn jede Frau, die sich in Franzi verliebt, hat ja quasi Pech gehabt. Sie wird leiden und von Franzi enttäuscht werden, weil Franzi sich nicht ändern kann oder will. Sie ist so, wie sie ist. Und denkt auch, sie hat das Recht dazu.

Wenn es aber keine Liebesgeschichte ist, was für eine Geschichte könnte es sein? Wäre Franzi dann eher eine Kriminelle? Würde andere Leute belügen und betrügen, und dann kommt eine Kommissarin, die sie überführen will, sich vielleicht ein bisschen in sie verliebt und dann von ihrer wahren Liebe „gerettet“ werden muss? Sodass dann die Kommissarin die Liebesgeschichte hat?

Dann wäre allerdings nur eine Perspektive nicht genug. Franzi hätte die Ich-Perspektive, aber die Kommissarin oder deren wahrer Love Interest müsste auch die Perspektive haben. Drei Perspektiven? Aber nicht alles Ich-Perspektive. Das wäre glaube ich zu verwirrend.

Man konnte natürlich auch so eine Art „Dorfpanorama“ daraus machen, mit ganz vielen verschiedenen Geschichten, die aber alle in dem Dorf spielen. Mit vielen verschiedenen Figuren. Das würde mir sehr gut gefallen. Gerade auch, um mich als Schriftstellerin weiterzuentwickeln, denn bisher habe ich mich doch immer sehr auf die zwei Hauptfiguren beschränkt. Wenn aber jede Figur ihre eigene Geschichte hätte . . . Hm. Muss ich mal überlegen.

Dann wäre Franzi eine von vielen Geschichten. Und sie muss keine Liebesgeschichte haben. Es könnte andere Liebesgeschichten geben. Wäre das aber dann nicht wieder zu viel? Denn es gibt ja durchaus Bücher, die so geschrieben sind, und Du hattest Dich immer sehr dagegen ausgesprochen. Kaum taucht eine Nebenfigur auf, schon wird ihre ganze Lebensgeschichte erzählt, ihre Probleme, ihre Wünsche und Sehnsüchte. Und dann wird die Figur erschossen. Also nur mal so als Beispiel. Die Figur hat keine weitere Bedeutung in der Geschichte, will ich damit sagen. Dennoch bekommt sie die Perspektive, wird eingeführt, als hätte sie eine Bedeutung, wird bis zu einer gewissen Tiefe ausgeleuchtet.

Ist das nicht irreführend? Denn die Leserin weiß ja dann gar nicht, wer die Hauptfigur ist. Oder muss es gar keine Hauptfigur geben? Weil es kein Liebesroman ist? Diese Herangehensweise wirft viele Fragen auf, weil sie praktisch das Gegenteil von dem ist, worüber wir im Forum gesprochen haben.

Der Ansatz war ja immer: Die Hauptfigur hat keine (großen) Probleme, die sogenannte andere Frau hat die Probleme. Die ihr die Hauptfigur dann zu lösen hilft. Wodurch sie zum Schluss ein Paar werden, wenn die Probleme dann aus der Welt geschafft sind.

Mit Franzi stimmt das in gewisser Weise überein, denn sie hat ihrer eigenen Ansicht nach keine Probleme. Sie beschert nur anderen welche. Und ärgert sich vielleicht darüber, dass sie dadurch manchmal selbst Probleme bekommt, weil diese anderen dann nichts mehr mit ihr zu tun haben wollen oder ihr Vorwürfe machen. Aber die Probleme, die sie dadurch bekommt, sind keine tiefgehenden, denn dass sie andere Menschen verletzt, berührt sie ja nicht. Sie sieht es noch nicht einmal. Sie hält die anderen für verrückt und meint, dass sie übertreiben. Weil das, was sie tut, für sie selbst nicht schlimm ist.

Deshalb kann man mit Franzi keine klassische el!es-Geschichte schreiben, weil sie sich niemals darum bemühen würde, einer anderen Person zu helfen, deren Probleme zu lösen. Menschen wie Franzi sind absolut egoistisch, sehen nur ihre eigenen Interessen. Sie sind ein Problem, haben aber keine.

Wenn Franzi aber diese Art von Problem ist, läuft es wieder auf dasselbe hinaus wie in Öffne dein Herz. Nicky leidet unter „Franzi“, aber Franzi ist das egal. Und wiederholen wollte ich mich eigentlich nicht.

Jetzt habe ich mich glaube ich ins Aus geschossen, denn so komme ich nicht weiter. 🤔
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Laura
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Re: Das Konzept der ›unzuverlässigen Erzählerin‹

Beitrag von Laura »

Da ich noch bis vor kurzem in diesen Sphären geschwebt habe, fällt mir sofort ein Beispiel ein: Daphne du Mauriers Rebecca. Wer sagt da die Wahrheit und wer nicht? Das ist fast wie eine kriminalistische Untersuchung, durch die die zweite Mrs. de Winter herausfinden muss, was wirklich passiert ist und wer Rebecca tatsächlich war. Vor allem aber auch, wie ihr Ehemann tatsächlich zu seiner ersten Frau stand und somit auch, wie er tatsächlich zu ihr, seiner zweiten Frau, steht. In dem Roman gibt es praktisch nur unzuverlässige Erzähler. Jeder zeichnet ein anderes Bild von Rebecca, aber zum Schluss stellt sich heraus, dass das alles nicht stimmt. Die arme junge Frau, die da hineingeworfen wird, weiß überhaupt nicht mehr, wo ihr der Kopf steht. Auch deshalb nicht, weil ihr Ehemann sich nicht dazu äußert und das, was er eigentlich klarstellen müsste, klarstellt. Erst am Schluss bricht er sein Schweigen.

Rebecca ist natürlich kein Liebesroman. Da geht es um ein Geheimnis, es ist eher eine Art Schauerroman, und die junge Ehe steht da nicht im Mittelpunkt, sie ist sozusagen nur der Anlass, um eine völlig unschuldige junge Frau in eine Situation zu werfen, die sie kaum bewältigen kann. Sie wird mit so vielen Lügen und Halbwahrheiten konfrontiert, dass es für sie praktisch unmöglich ist, das zu durchschauen. Sie interpretiert es aus ihrer Sicht der Welt und kommt zu dem Schluss, dass Rebecca wohl eine strahlend schöne und zudem großartige und liebenswerte Frau gewesen sein muss, der sie niemals das Wasser reichen kann. Schön war Rebecca tatsächlich, der Rest trifft jedoch nicht zu. Sie war so ein bisschen wie Franzi, nur noch viel schlimmer. 😉

Es ist ziemlich deprimierend, wie Daphne du Maurier das zum Teil beschreibt. Weil man immer wieder das Gefühl hat, man kommt mit Lügen besser durchs Leben als mit der Wahrheit. Wenn man ein harmloser und unschuldiger Mensch ist, hat man keine Chance gegen all diese Ränkeschmiede, die nur ihre eigenen Interessen verfolgen. Das Buch hat nicht nur eine Franzi, es wimmelt von Franzis. Jede Figur ist nur auf sich selbst konzentriert und geht praktisch über Leichen, hat keinerlei Mitgefühl oder Sympathie für andere. Keine dieser Figuren schämt sich jedoch dafür oder sieht das als falsch an. Die Regeln der Gesellschaft gelten nicht für sie, weil sie sich alle für außergewöhnlich halten und deshalb meinen, darüber zu stehen.

Als eine dieser Figuren könnte ich mir Franzi durchaus vorstellen. Sie erzählt der eher harmlosen und unschuldigen Hauptfigur etwas, das diese Hauptfigur völlig verwirrt, das sie aber dennoch zumindest teilweise glaubt. Oder sogar ganz. So in etwa wie Rebeccas Cousin, der in Daphne du Mauriers Buch auftritt und eigentlich sehr sympathisch erscheint. Bis sich herausstellt, dass er ein Lügner und Betrüger erster Güte ist. Dass man ihm kein Wort glauben kann. Dennoch mag man ihn immer noch. Er ist eben so eine Art liebenswerter Hallodri, sehr unterhaltsam und charmant. Man sollte ihm nur nie Geld leihen, denn das sieht man bestimmt nicht wieder. Aber wenn man weiß, dass er ein Lügner ist, kann man eine schöne Zeit mit ihm haben. Solange man ihm nicht vertraut.
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Antje
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Re: Das Konzept der ›unzuverlässigen Erzählerin‹

Beitrag von Antje »

Ich glaube, ich sollte hier vielleicht mal ein paar konkrete Beispiele für unzuverlässige Erzählerinnen/Erzähler einwerfen, damit das Konzept vielleicht etwas klarer wird. (Achtung, Spoiler!)

Zuerst ist mir der Film The Sixth Sense mit Bruce Willis in der Hauptrolle eingefallen. Während des ganzen Filmes begleiten wir Dr. Malcolm Crowe, wie sein Leben nach einem Attentat auf ihn immer mehr zerfällt. Wir fragen uns, warum seine Frau nicht mehr mit ihm redet und was es mit dem Jungen auf sich hat, der ihm gegenüber betont: „Ich sehe tote Menschen“.

Und am Ende stellt sich heraus, dass er das Attentat gar nicht überlebt hat, sondern tot ist. Aber er wusste das selbst nicht. Also hat er uns die ganze Zeit etwas erzählt, von dem er selbst nicht wusste, dass es nicht die Wahrheit ist.

Das gleiche Schema gilt für den Film The Others mit Nicole Kidman. Grace wohnt mit ihren beiden Kindern in einem Haus, in dem es spukt. Fensterläden und Vorhänge müssen geschlossen bleiben, weil die Kinder unter Lichtallergie leiden, doch dauernd sind sie von allein immer wieder offen, Schubladen öffnen sich, Möbel verrücken . . . das Personal, das Grace engagiert, verhält sich äußerst merkwürdig . . .

Schließlich eskaliert die ganze Situation, und Grace heuert eine Hellseherin an, um eine Séance zu veranstalten. Bei dieser Séance stellt sich heraus, dass „die Anderen“ gar nicht die Geister sind, sondern Grace und ihre Kinder. Die sind nämlich die ganze Zeit über tot und spuken herum, und die vermeintlichen Geister sind echte Menschen, die im Haus leben und von Grace als Geist terrorisiert werden. (Die von Grace eingestellten Hausdiener sind ebenfalls tot.)

Also hat uns und sich selbst Grace die ganze Zeit über eine Geschichte erzählt, die aus ihrer Perspektive wahr war, aber in der Realität hat sie nicht gestimmt.

Das sind mal zwei Beispiele, die mir spontan einfallen.

Es gibt aber noch mehr Filme (die mir jetzt nicht konkret in den Sinn kommen), in denen der/die Hauptdarsteller/in am Ende mit einer ganz anderen Realität konfrontiert werden, als sie die ganze Zeit über für Tatsache gehalten haben.

Und was macht das jetzt mit uns als Zuschauerin (Leserin)? Wir sind erst einmal genauso überrascht wie die Protagonistin/der Protagonist. Und dann – im Englischen gibt es den schönen Ausdruck everything falls into place – fügen sich die Puzzleteile zusammen. Ach, deshalb war das und das so und so, denken wir uns. Eine Art mehrfacher Aha-Effekt. Ich würde das vergleichen mit der Auflösung eines Krimis, wenn wir erfahren, wer der Mörder ist. Nur dass wir diesmal bis zur Auflösung gar nicht wussten, dass die Geschichte wie ein Krimi ist. Noch ein Aha-Effekt. Und solche Aha-Effekte lieben wir doch. Die Auflösung eines Rätsels. Ein unvorhergesehener Twist am Ende. Die vielen Ungereimtheiten, die uns vom unzuverlässigen Erzähler präsentiert wurden, bekommen eine Erklärung, werden klar.

Das alles regt uns zum Nachdenken über die Geschichte an. Wir gehen die Szenen durch, diesmal mit dem Wissen, dass alles ganz anders war als bislang angenommen. Wir staunen über die Genialität der Autoren/Autorinnen, uns so geschickt hinters Licht geführt zu haben, dass wir genauso wie die Erzählerin/der Erzähler nicht gemerkt haben, was eigentlich die ganze Zeit über los war.

Ich finde so was echt cool. 😎
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Ruth
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Re: Das Konzept der ›unzuverlässigen Erzählerin‹

Beitrag von Ruth »

Mich verwirrt so etwas oft eher. Aber es kommt immer darauf an, wie die Geschichte erzählt wird, ob ich das zum Schluss dann doch cool finden kann oder nicht.

Das ist eben das Schwierige an diesem Konzept. Was ich auch schon einmal zu beschreiben versucht habe. Als Autorin muss man wissen, dass es Tag ist, auch wenn die unzuverlässige Erzählerin davon überzeugt ist – und auch die Leserinnen davon überzeugt –, dass es Nacht ist. Sie sieht das Licht nicht, für sie herrscht Dunkelheit. Das ist aber nicht real. In Wirklichkeit ist es heller Tag. Das weiß sie aber nicht. Wenn es so ist, dann ist sie eine unzuverlässige Erzählerin.

Wenn Hanna beispielsweise Franzi zur Hauptfigur macht und wir alles nur durch Franzis Augen sehen, wird Franzi uns als sympathisch und missverstanden und leidend erscheinen. Sie wird sich einige Dinge nicht erklären können, und die werden dann auch uns unerklärlich erscheinen. Wir werden nicht denken, dass sie lügt, sondern wir werden ihr glauben, dass sie immer nur das arme Opfer ist, dass die anderen böse sind.

Deshalb ist es auch gar kein Problem, eine solche Figur sympathisch erscheinen zu lassen. Denn in ihren eigenen Augen ist sie das, und das ist auch das, was sie uns vermittelt. Man könnte aber auch wieder Rebecca als Beispiel nehmen. Wenn wir ein Buch hätten, das die Welt aus Rebeccas Sicht beschreibt, zu dem Zeitpunkt, als sie noch lebte, würde uns ihr Ehemann und würde uns die zweite Mrs de Winter als böse erscheinen. Wir würden gar nicht wissen, dass sie das nicht sind, weil unser ganzer Blick durch Rebecca gefiltert wird. Weil wir die Welt nur so sehen können, wie sie sie sieht.

Wir hätten beispielsweise Mitleid mit ihr, weil sie so einen kalten Mann geheiratet hat, der ihr keine Liebe gibt, dass sie gezwungen ist, sich andere Liebhaber zu suchen, damit sie auch nur ein bisschen Zärtlichkeit bekommt. Wir würden das verstehen und würden Maxim de Winter für sein liebloses Verhalten hassen. Weil Rebecca das auch tut.

Maxim könnte der liebste und netteste Mensch sein, wir würden es gar nicht erfahren, weil wir die Lügen, die Rebecca uns über ihn erzählt, glauben würden. So wie es auch im realen Leben ist. Da gibt es böse Menschen, die Lügen über andere erzählen, sie sogar ruinieren, und wir denken, die ruinierten Menschen sind die Bösen, hätten sich das selbst zuzuschreiben. Wir glauben den Bösen, weil wir denken, dass sie die Guten sind, und verurteilen die Guten, weil wir denken, dass sie die Bösen sind. Wir selbst sind dabei gar nicht böse, haben auch keine böse Absicht, wir glauben nur den falschen Leuten.

Genauso funktioniert das in einem Buch. Wir Autorinnen machen die Leserinnen glauben, dass die Welt, so wie wir sie beschreiben, existiert. Zumindest für die Länge der Geschichte in einem Roman. Wir beschreiben fiktive Ereignisse, aber sie dürfen nicht fiktiv erscheinen. Die Figuren müssen genauso lebensecht und real erscheinen wie ihre Handlungen, wie die Umstände.

Der einzige Unterschied ist, dass wenn wir sagen, es ist Tag, dann ist es in der Geschichte auch Tag und nicht Nacht. Und die Leserinnen sind sich dessen bewusst, dass sie eine Geschichte lesen, dass das keine realen Ereignisse sind, nicht die Nachrichten, nicht die Tagesschau. Das ist die Übereinkunft, die man trifft, wenn man Roman auf ein Buch schreibt.

Wenn wir behaupten würden, das alles wäre wirklich passiert, und wir das selbst auch glauben würden, dann wären wir eine unzuverlässige Erzählerin, dann wären wir Franzi. Denn wenn es reale Ereignisse sind, die wir beschreiben, bezeichnet man das nicht als Roman, sondern als Autobiographie oder als Dokumentation.

Also wenn Du aus Franzi eine sympathische unzuverlässige Erzählerin machst, Hanna, könnte es funktionieren. 🙂
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