Wie schreibt man einen Roman? - Eine Perspektive oder zwei (mehrere)?

Schreiben? Ja. Aber wie?
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Ruth
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Wie schreibt man einen Roman? - Eine Perspektive oder zwei (mehrere)?

Beitrag von Ruth »

Es ist alles nur eine Frage der Perspektive ist eine geflügelte Redewendung. Beim Schreiben trifft das jedoch sogar doppelt und dreifach zu – und das sogar im wahrsten Sinne des Wortes.
Die Perspektive ist eines der wichtigsten Stilmittel, um Identifikation mit der Leserin zu erzeugen. Denn die Person, die die Perspektive hat, gelangt mit ihren Ansichten und auch Gefühlen direkt in den Kopf derjenigen, die das lesen. Oder derjenigen, die einen Film sehen, eine Serie, eine Dokumentation, was auch immer.
Wir beschäftigen uns hier jedoch ausschließlich mit der Perspektive beim Schreiben. Es gibt verschiedene Arten, wie man Perspektive beim Schreiben verwenden kann. Als ich anfing zu schreiben, hatte ich immer nur eine Perspektive. Das lag allein schon an der Ich-Form.
Wenn man in der Ich-Form schreibt, kann man nicht in den Kopf eines anderen Menschen hineinsehen. Man sieht immer nur sich selbst beziehungsweise die Ich-Figur. Man kann nur Dinge beschreiben, die die Ich-Figur erlebt. Alles andere ist ihr und auch der Leserin verschlossen. Außer es wird von einem anderen Menschen explizit erzählt.
Diese Perspektive empfinden viele Anfängerinnen, vor allem wenn sie noch sehr jung sind, als die einzig mögliche. Teenager beschreiben oft nur das, was sie täglich in der Schule, mit ihren Freundinnen und Freunden, in der Familie erleben, und sie sehen nur sich selbst. Also ist die Ich-Perspektive die einzig logische. Es gibt keine andere.
Wenn man älter oder erfahrener im Schreiben wird, wird diese Perspektive oftmals durch die personale Perspektive der dritten Person ersetzt. Im Grunde genommen ist das dasselbe wie die Ich-Perspektive, aber man schreibt eben Sie statt Ich. Wie schon die Bezeichnung sagt, ist diese Perspektive immer noch sehr persönlich.
Dann gibt es auch noch die Möglichkeit, eine Art unpersönliche Perspektive zu haben, ebenfalls in der dritten Person, aber es wird mehr über die Figur gesprochen als von der Figur oder durch die Gefühle beziehungsweise Wahrnehmung der Figur.
Das ist die auktoriale Perspektive, die man aber möglichst vermeiden sollte, weil sie sehr distanziert wirkt. In dieser Perspektive fließen auch sehr viele Beurteilungen der Autorin mit ein sowohl über die Figuren als auch über die Geschichte an sich. Das kann verwirren, weil man nie so genau weiß, ist das jetzt die Figur, die das denkt, oder die Autorin.
Sobald man von der Ich-Perspektive in die Perspektive der dritten Person übergeht, hat man jedoch auch die Wahl, nicht nur aus der Perspektive einer einzigen Person zu erzählen, sondern aus mehreren, mindestens zwei.
Auch diese doppelte Perspektive, wenn man das so nennen will, wird sehr gern von unerfahrenen Autoren verwendet. Denn auf diese Art kann man immer direkt aus der Perspektive der einen und dann der anderen Person erzählen, fast wie in der Ich-Perspektive. Die Autorin muss sich nicht in die jeweils andere Person hineinversetzen.
Um das zu tun, müsste sie das Stilmittel des Show don’t tell verwenden, was viele nicht können. Denn Show don’t tell ist tatsächlich so eine Art Königsdisziplin, die für Anfänger oft auf der unerreichbaren Spitze eines Berges sitzt.
Mit zwei jeweils wechselnden Perspektiven muss man nicht unbedingt Show don’t tell können. Man sagt einfach alles direkt. Das ist wesentlich einfacher.
Diese Methode ist jedoch nicht nur bei Anfängern weit verbreitet, sondern auch bei Profis. Sie wird sogar von Gwen Hayes, mit deren Methode wir uns hier in diesem Forum sehr viel beschäftigen, angewendet und empfohlen. Ihr Beat Sheet basiert darauf.
Dennoch habe ich selbst in meinen Büchern immer noch eher die Tendenz, nur aus einer Perspektive zu schreiben. Denn für mich ist eine der beiden Hauptfiguren immer die wichtigere, diejenige, mit der ich mich mehr identifiziere. Ich finde es auch besser, wenn die zweite Frau von einem Geheimnis umgeben wird, das man nicht so schnell erfährt.
Aber es gibt viele Autorinnen, die lieber aus zwei Perspektiven schreiben. Manche Autorinnen würden sogar am liebsten aus jeder Perspektive schreiben, bis hin zu aus der von Nebenfiguren. Was man sogar in vielen veröffentlichten Büchern sieht. Besonders in Fantasy. Dort gibt es oftmals Dutzende von Figuren und auch Dutzende von Perspektiven.
Ich persönlich mag das nicht, finde das eher verwirrend. Aber das ist Geschmackssache.
Dennoch hat man bei einem Liebesroman die Wahl, entweder aus einer oder aus zwei Perspektiven zu schreiben. Denn es geht um zwei Hauptpersonen, alles andere sind Nebenfiguren.
Sofern man überhaupt welche hat. Bei einem Liebesroman muss man nicht so viel Personal haben wie beispielsweise in der Fantasy, in einem Krimi, bei Actiongeschichten oder Familienromanen.
Die Vorteile davon, zwei Perspektiven zu haben, liegen auf der Hand. Ich hatte das oben schon angedeutet. Man muss als Autorin nicht so viel können. Show don’t tell kann man völlig weglassen, ohne dass es jemand merkt.
Auch mögen viele Leserinnen es, wenn man in den Kopf jeder Figur schlüpft, zumindest der beiden Hauptfiguren. Sie können sich die Figuren dann besser vorstellen, ihre Gefühle besser nachempfinden. In der heutigen Zeit fällt es vielen Menschen schwer, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Alles dreht sich um das eigene Ego.
Das spiegelt sich auch in der Art des Schreibens wider. Die weite Verbreitung von Self-Publishing hat ebenfalls dazu beigetragen, dass uns solche Dinge normal erscheinen. Denn viele Self-Publisher machen sich nicht die Mühe, das Schreiben erst einmal zu erlernen, sich mit dem Handwerk des Schreibens zu beschäftigen. Sie schreiben einfach los, egal ob sie es können oder nicht. Und das wird dann auch gleich veröffentlicht.
Somit steht es uns Autorinnen frei, uns die Art der Perspektive auszusuchen, die uns leichter fällt, die uns am besten liegt. Ein ganzes Buch aus einer einzigen Perspektive zu schreiben und die anderen Personen durch Show don’t tell ebenso lebendig erscheinen zu lassen, ist schwieriger, also wird man immer weniger Bücher in dieser Art finden.
Natürlich gibt es auch Bücher, die nur aus einer Perspektive geschrieben sind und trotzdem nicht den schwierigeren Weg des Show don’t tell gehen. Das sind Bücher, die eher an Tagebücher erinnern. Die Autorin beschreibt lediglich, was sie erlebt hat, wo sie war, denkt sich praktisch nichts aus, sondern gibt nur ihren Alltag wieder oder vielleicht noch ihre Urlaubserfahrungen.
Solange es Leserinnen gibt, die das kaufen, ist das natürlich auch völlig in Ordnung. Mich interessieren solche Bücher meistens weniger.
Es ist jedenfalls eine Entscheidung, die man treffen muss, die Entscheidung, aus wie vielen Perspektiven man schreiben will.
Auch deshalb, weil es tatsächlich einfacher ist, aus zwei Perspektiven zu schreiben, arbeiten wir jetzt im Romanforum das ganze Buch von Gwen Hayes Kapitel für Kapitel durch. Denn es ist eine sehr probate Methode.
Ich sage einfacher, aber das heißt nicht schlechter. Und es gibt keinen Grund, warum man es sich unnötig schwer machen muss, indem man versucht, nur aus einer Perspektive zu schreiben und alles andere trotzdem über Show don’t tell zu vermitteln.
Natürlich ist es schön, wenn man das schafft, und man kann stolz auf sich sein. Aber ich finde, man sollte beides versuchen.
Wer lieber aus zwei Perspektiven schreibt, sollte versuchen, mal eine ganze Geschichte nur aus einer Perspektive zu schreiben und ganz gezielt Show don’t tell einzusetzen.
Wer lieber aus einer Perspektive schreibt, sollte versuchen, aus zwei Perspektiven zu schreiben, um herauszufinden, wie sie davon als Autorin profitieren kann.
Es ist alles nur eine Frage der Perspektive, wie ich am Anfang schon sagte. 🙂
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Katja
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Re: Wie schreibt man einen Roman? - Eine Perspektive oder zwei (mehrere)?

Beitrag von Katja »

Und es ist alles nicht einfach, wenn ich das mal hinzufügen darf. ;) Egal, wofür man sich entscheidet, es ist immer anstrengend. Weil die Geschichte stimmen muss. Weil man außer der Perspektive noch tausend andere Sachen berücksichtigen muss. Aber die Perspektive hat schon viel damit zu tun, wie sich das Buch dann zum Schluss "anfühlt". Für mich selbst als Autorin, aber auch für die Leserin, denke ich.

Danke für diesen Artikel, Ruth. Ich denke ja schon einige Zeit über einen neuen Roman nach, aber das macht es mir nicht leichter. Ich schreibe eigentlich lieber nur aus einer Perspektive, aber manchmal geht es nicht. Weil man etwas sagen oder erzählen will, was sehr schwer aus nur der Perspektive der Hauptperson zu erzählen ist, selbst mit Show don't tell. Sollte man dann die Perspektive wechseln oder lieber nicht? Doch lieber den schwierigen Weg gehen und sich nicht davon abbringen lassen? Wie weh es auch tut oder wie lange es auch dauert?
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Hanna
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Re: Wie schreibt man einen Roman? - Eine Perspektive oder zwei (mehrere)?

Beitrag von Hanna »

Mir fällt es sehr schwer, aus mehr als einer Perspektive zu schreiben. Wenn ich das versuche, kommt es mir einfach unnatürlich vor. Weil die eine Figur mein Alter Ego ist, die andere aber nicht. Sie wird nur durch die Augen des Alter Egos gesehen. Wenn ich zwei Perspektiven in einem Roman lese, habe ich auch immer das Gefühl, dass die jeweilige Autorin die zweite Figur nicht so gut darstellen kann, wenn sie aus ihrer Perspektive schreibt. Trotzdem machen es viele. Wahrscheinlich, weil es tatsächlich einfacher ist. Vor allem wegen Show don't tell.
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Kay
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Re: Wie schreibt man einen Roman? - Eine Perspektive oder zwei (mehrere)?

Beitrag von Kay »

Ja, das stimmt. Oftmals ist es so, dass eine Autorin aus zwei Perspektiven schreibt, aber es fühlt sich beim Lesen trotzdem so an, als wären beide Figuren gleich. Eben beide Alter Egos der Autorin. Nicht sehr verschieden voneinander. Was es dann auch schwierig macht, Konflikte entstehen zu lassen, denn eigentlich sind die beiden sich ja immer einig. Selbst wenn Konflikte auftauchen, werden sie oft sehr schnell beigelegt, sodass sich keine Spannung ergibt.

Ich finde es auch sehr schwierig, aus verschiedenen Perspektiven zu schreiben. Obwohl ich es schon oft gemacht habe. Es ist aber sehr anstrengend. Ich hatte sogar schon mal mehr als zwei personale Perspektiven und dazu auch noch die auktoriale. Da fühlte ich mich hinterher so, als hätte ich eine gespaltene Persönlichkeit. 8-)
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Ruth
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Re: Wie schreibt man einen Roman? - Eine Perspektive oder zwei (mehrere)?

Beitrag von Ruth »

Ich glaube, das kommt auf die Persönlichkeit der Autorin an. :) Manche Autorinnen machen sich da vielleicht gar nicht so viele Gedanken. Sie merken (vermutlich eher unbewusst als bewusst), sie können sich nicht in eine andere Person hineinversetzen, beherrschen Show don't tell nicht, müssen immer aus der Perspektive der Person schreiben, um die es geht, und dann tun sie das eben. Ohne groß darüber nachzudenken, dass ihre Figuren sich alle gleich anhören und kein Konfliktpotenzial bieten.

Aus meiner eigenen Erfahrung heraus kann ich nur sagen, dass es für mich tatsächlich anstrengender ist, aus zwei Perspektiven zu schreiben, nicht einfacher. Obwohl ich das oben gesagt habe, weil meine Erfahrung mit anderen Autorinnen mich gelehrt hat, dass es für viele tatsächlich einfacher ist. Weil sie die Unterschiede zwischen den Figuren nicht so herausarbeiten, wie ich das vielleicht tue oder auch Hanna und Du, Kay.

Katja hat geschrieben: Mittwoch 18. Januar 2023, 18:53Doch lieber den schwierigen Weg gehen und sich nicht davon abbringen lassen? Wie weh es auch tut oder wie lange es auch dauert?
Ich glaube, es gibt nur einen Weg, und das ist der eigene. 8-) Manchmal ist der schwieriger, manchmal ist der leichter, aber er muss vor allem mit dem übereinstimmen, was Du als Autorin willst. Was wir alle als Autorinnen wollen. Das ist bei jeder Autorin etwas anderes, und deshalb kann man das nicht pauschal beantworten. Es muss es Dir selbst wert sein, diesen Weg zu gehen.
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Angela
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Re: Wie schreibt man einen Roman? - Eine Perspektive oder zwei (mehrere)?

Beitrag von Angela »

Da Gwen Hayes zwei Perspektiven vorgibt, schreibe ich nun auch aus zwei Perspektiven. Es ist sowohl schwieriger als auch einfacher, würde ich sagen. Schwieriger, weil man sich voll in zwei völlig verschiedene Menschen hineinversetzen muss, einfacher, weil man dadurch gezwungen wird, seine beiden Hauptfiguren besser kennenzulernen. Für mich ist es eine Herausforderung, weil ich es immer einfacher fand, nur aus einer Perspektive zu schreiben und die zweite Hauptfigur als "die andere" zu betrachten. Das ist mehr so wie das reale Leben, wo man auch nicht in den Kopf eines anderen Menschen hineinschauen kann. Aber einen Roman zu schreiben ist nicht wie das reale Leben, es ist Fiktion. Und das merkt man weit mehr, wenn man zwei Perspektiven hat. Vielleicht wird man dadurch freier für den Verlauf der Geschichte? Ich weiß es nicht. Im Moment ist es vor allem sehr mühsam. 8-)
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